Page 92 - Rudolf Giesselmann - Landerziehungsheim Walkemühle
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Ein Helfer berichtet von den letzten Tagen auf      habt sie nicht zu verlassen!’ Das waren so ein
            der Walkemühle:                                     Dutzend,   manchmal    auch    zwei  Dutzend
                                                                SA-Leute in der Walkemühle, die aufpassten,
            “Zwischen der ersten und zweiten Hausdurch-         damit nichts passierte.
            suchung durch die  SA von Melsungen setzten
            wir uns noch mal zusammen und sagten: ,Das          Ich hatte inzwischen festgestellt, da ist einer
            hat keinen Zweck mehr, wir müssen weniger           dabei, der ist ein klein bisschen doof, und wir
            werden! Wir müssen weg, die hauen uns zu-           hatten einen deutschnationalen Rechtsanwalt
            sammen.’ Und Minna Specht wollte und wollte         hier in Kassel sitzen  -  wir waren uns ei-
            nicht weg, und dann sagte ich - ich war zu der      nig: ,Mensch, der muss an dem Tag in der
            Zeit das einzige männliche Wesen da, außer          Walkemühle sein, an dem die SA-Standarte
            mir waren es nur noch einige Frauen  -    ich       von Kassel anrückt. Ja, wer fährt denn hin?’ Ich
            sagte: ,Minna, Du gehst jetzt weg und machst        sah mir die Weibsen alle an und sagte: ,Ich
            eine Kur in Witzenhausen.’ Wir schickten sie        fahre hin.’ ,Menschenskind, wie willst du das
            nach Witzenhausen zum Dr. Buchinger, der            machen?’    Ich sagte: ,Ich mache es schon.
            machte so halbe Hungerkuren. Wir waren ja           Morgens früh um sechs hat der Doofe Wache,
            alle Vegetarier, und bei  einer Hungerkur, da       und um halb sieben geht ein Zug von Mel-
            konnte man ja nichts falsch machen. Minna           sungen ab nach Kassel, das weiß ich. Mein
            hatte sich aber ausbedungen, alle drei Tage         Fahrrad stelle ich startbereit.’
            von uns Bescheid zu bekommen, und so
            büchste immer einer aus, wanderte erst ein          Ich stellte mein Fahrrad startbereit, und dann
            Stück, fuhr dann mit dem Fahrrad nach Witz-         ging ich raus, auf den Doofen zu und begrüßte
            hausen und berichtete Minna Specht.                 den nur freundlich: ,Mensch, heute gibt es aber
                                                                prima Wetter.’ Der antwortete: ,Ja, ja.’  Ich
            Und eines guten Tages, ich stand noch mit zehn      aufs Rad und weg, ab nach Kassel. Zuerst nach
            weiblichen Wesen da, rückte die Melsunger SA        Melsungen. In Melsungen stellte ich das Rad
            zur zweiten Hausdurchsuchung an, u.a. der Dr.       am Bahnhof hin, sagte dem Mann an der
            Reinhardt, der war Ortsgruppenleiter gewor-         Sperre: ,Stell das Rad beiseite, ich hole es heute
            den, und vorher war er auch mal Arzt der            Abend wieder!’ Ich löste eine Karte nach Kassel,
            Walkemühle gewesen, der kannte uns eigent-          fuhr nicht nach Kassel, sondern stieg schon in
            lich alle, der rückte an. Wir mussten alle in       Wilhelmshöhe aus, ging zu dem Rechtsanwalt,
            unserem Speiseraum antreten, dann ließ er die       und da redete ich dann mit Engelszungen, und
            Katze aus dem Sack und sprach: ,Ja, geheime         der Rechtsanwalt sagte mir nur: ,Das können
            Verbindungen nach Moskau, Geheimsender              sie viel besser als ich, also, das hat doch keinen
            usw.,’ erzählte er, ,und dann habe ich als Arzt     Zweck, das hat doch keinen Zweck, dass ich
            noch den Auftrag, Sie zu untersuchen, wer von       dahinkomme, nee, das hat keinen Zweck!’
            Ihnen männlichen und wer von Ihnen weibli-          Ohne was erreicht zu haben, fuhr ich also
            chen Geschlechts ist.’ Ich sagte: ,Herr Dr.         wieder zurück.
            Reinhardt,’  ich  war  nun  das  einzige männ-
            liche Wesen da drinnen, ,bei mir können sie,        In der Walkemühle gab man mir dann Be-
            glaube ich, nicht zweifeln, dass ich ein  Mann      scheid und sagte, ich dürfe die Walkemühle
            bin. Und die anderen, Herr Dr. Reinhard, ich        überhaupt nicht mehr verlassen. Sie setzten mir
            möchte sie daran erinnern, dass sie mal der         einen vor die Tür, und wenn ich von einer Tur-
            Hausarzt dieser Schule gewesen sind und alle,       bine zur anderen wollte, dann ging immer ein
            wie sie da stehen, die haben sie alle schon         SA-Mann mit, damit ich nicht ausreißen konnte.
            untersucht. Sie brauchen sie also nicht mehr zu     Und das, obwohl ich für meinen Ausflug nach
            untersuchen.’  Und hinter ihm standen dann so       Kassel eine prima Begründung hatte: Mein
            zwölf SA-Männer mit Karabinern. Dann ging er        jüngster Bruder hatte an dem Tag Konfirmation
            noch bei einer jungen Frau vorbei und packte        gehabt.”  (Willi Warnke)
            an ihre Brust und sagte: ,Sie kenne ich nicht - ja,
            ist auch eine Frau.’ Das war alles, das war die     Zu dieser und der von Willi Warnke im folgen-
            Untersuchung. Und dann zogen sie ab und             den gegebenen Darstellung gab Nora Walter
            kommandierten uns: ,Ihr habt die Walkemühle         als Augenzeugin eine andere Version, laut
            nicht zu verlassen. Die Walkemühle wird dann        derer Minna Specht zu dieser Zeit durchaus in
            und dann von der Standarte 83 aus Kassel            der Walkemühle anwesend war.
            übernommen.’  Bumm, jetzt saßen wir fest. ,Ihr      Einfügung einer Helferin:

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