Page 84 - Rudolf Giesselmann - Landerziehungsheim Walkemühle
P. 84
Elternrundbrief (78) III. Gruppe: Paul Körber, Herbert Lindau, Rai-
ner Schmidt, Horst Erhardt, Heide
Fortmüller, Liesel Körber, Tamen
“Walkemühle, den 8. Januar 1933
Gloger, Nora Fliess. (Leitung: Lie-
selotte Wettig)
Liebe Freunde, IV. Gruppe: Lotte Schiff, Sepp Kaminski, Veron
Durch den Elterntag seid Ihr von unserer Arbeit während Merkos, Peter Nemenyi. (Leitung:
des Sommers 1932 unterrichtet worden. Das Wesentliche Rose Slongo )
unserer Winterarbeit sollt ihr durch diesen Bericht er-
fahren. In der I. und II. Gruppe gibt außerdem Minna Specht
einige Stunden Unterricht. Die IV. Gruppe leitete nach
Wir setzten uns nach dem Elterntag die Aufgabe, das dem Weggang von Grete Kummert eine andere Genossin
geistige Leben der Kinder besonders zu fördern. Darum unter Hilfe von Julie Pohlmann. Jetzt leitet sie Rose
stellten wir den Unterricht in den Mittelpunkt unserer Slongo, eine Schweizer Genossin, in der wir hoffentlich
Arbeit. Mathematik-, Rechnen- und Physikunterricht einen dauernden Mitarbeiter gewonnen haben.
standen dabei im Vordergrund. Warum ? In diesen Fä-
chern lässt sich die sokratische Methode als Unter- Anneliese Rorig ist seit Ende Oktober wieder zu Hause.
richtsmethode anwenden. In ihnen kommt es nicht nur Ihr werdet vielleicht erstaunt sein, dass sie, die Älteste,
auf Wissensbereicherung an, sondern der Kernpunkt ist die am Elterntag wohl einen ordentlichen und kräftigen
Einsicht und Verstehen. Dieses kann nur durch selb- Eindruck gemacht hat, nicht mehr hier ist. Gewiss, An-
ständiges Denken erreicht werden. Durch die sokratische neliese Rorig hat eine Reihe von schönen Fertigkeiten,
Methode ist die selbständige Entdeckung z.B. von ma- sie ist jedoch oberflächlich und vom schwächlichem
thematischen und physikalischen Wahrheiten möglich. Willen. Das zeigt sich besonders darin, dass sie Versu-
Während also in andern Fächern bei uns das Arbeits- chungen jeder Art widerstandslos nachgibt. In einer
schulprinzip, d.h. selbsttätiges, anschauliches Erarbeiten heutigen Volksschule wird sie eine gute Durch-
von Wissen Anwendung findet, kommt bei der sokrati- schnittsschülerin sein. Als wir an alle Kinder die An-
schen Methode noch hinzu die Weckung und Stärkung forderungen an den Charakter und an den Willen er-
der Selbständigkeit des Denkens und vor allem die höhten, versagte Annelise Rorig gerade in dieser Hin-
Freude am Erkennen, die in der Erkenntnis von Gesetzen sicht. Die Aussicht, in kurzer Zeit solch tiefgreifende
ihre höchste Stufe erreicht. Hieraus geht hervor, welche Schwierigkeiten zu beseitigen, ist sehr gering und hätte
Bedeutung die sokratische Methode nicht nur für die der besonderen Bereitschaft von Anneliese Rorig be-
intellektuelle Entwicklung, sondern in der Hauptsache für durft. Wir teilten ihr und ihrer Mutter mit, dass die
die Charakterentwicklung der Kinder hat. Der sokratische Möglichkeit bestehe, dass wir sie wegschicken würden,
Unterricht soll also dank der A bsage an alle Autorität, die wenn sie sich nicht ändere. Wir wollten es noch eine
sein Wesen ausmacht, ein sehr wichtiger Teil unserer Zeitlang versuchen. Frau Rorig zeigte für unsere Pläne
Gesamterziehung werden. Das gilt in größerem Maße kein Verständnis und rief ihre Tochter kurzerhand zurück.
natürlich für die älteren Kinder. Bei den Jüngeren nimmt Über manches Unliebsame, was dann folgte, wollen wir
dieser Unterricht seinen Anfang, der Arbeitsschulun- hier schweigen.
terricht wiegt dort vor.
Zur Mithilfe in der Gesamterziehung haben wir in stär-
Der Unterricht als Mittelpunkt der Schule b edingte einige kerem Maße als bisher die erwachsenen Genossen in der
organisatorische Änderungen gegenüber der Sommer- Mühle herangezogen, die Helfer in der Küche, Haus und
arbeit. Nach dem Elterntag bildeten wir folgende Werkstatt. Ihre Mitarbeit besteht darin, dass sie auch
Unterrichtsgruppen: regelmäßig abends mit Gruppen von Kindern zusammen
sind, mit ihnen spielen oder von ihrer früheren Arbeit
erzählen usw. ...
Hierdurch soll verhindert werden, dass die Kinder auf
I. Gruppe: Bruno Kaminski, Heinrich Zim- den Umgang mit uns Erziehern beschränkt sind. Ihr Blick
mermann, Eva Leitner, Vertuemo soll geweitet werden, sie sollen lernen, Umgang mit einer
Gloger, Alex Leitner. (Leitung: Hans Reihe von Menschen zu haben. Vor allem soll aber da-
Lewinski) durch erreicht werden, dass sie die praktische Berufs-
arbeit zum mindesten gleich einschätzen wie die Berufs-
II. Gruppe: Hans Knodt, Sajero Gloger, Hein arbeit von uns Erziehern. Die Mitarbeit der Genossen ist
Lindau, Jürgen Gräffe, Nora Walter. bis jetzt ein guter Erfolg. Sie ist auch ein Teil der politi-
(Leitung: Julie Pohlmann) schen Erziehung der Kinder. Mit der I. und II. Gruppe hat
Minna Specht einen Kurs über die Not der Zeit gemacht,
wo unter anderem über Sondergerichte, politischen
84