Page 82 - Rudolf Giesselmann - Landerziehungsheim Walkemühle
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Winterfest in einem Arbeiterkinderheim. aussehen soll als die heutige Ordnung; der Wille, das
eigene Leben nicht in einer Umgebung zu führen, in der
M. S. Das Weihnachtsfest hatten die Kinder schon vor Mißhandlung, Mißachtung und das Recht dos Stärkeren
einem Jahr abgesetzt gelten, sondern in einer Gesellschaft, in der alle das
Es war eine gute Aussprache, in der die Kinder das Fest gleiche Recht auf Leben und Freude haben. Die Kinder
begraben wollten und ein Teil der Erwachsenen es ver- wissen es — weil sie es bereits erleben —, daß es noch
teidigt. Die Erwachsenen waren zwar alle aus der Kirche andere Kämpfe, andere Not und andere Aufgaben gibt
ausgetreten, aber sie wollten die Feier nicht preisgeben, als nur die, in die Welt des Wissens einzudringen und
ohne etwas anderes, etwas Schönes und das Herz Be- sich gegenseitig in der Kinderkameradschaft beizuste-
wegende an die Stelle zu setzen. Alle Argumente, die hen.
Freidenker bei dieser Gelegenheit hervorzuholen pflegen, Sobald dieser Gedanke, die Verbundenheit der Schule mit
wurden vorgebracht: daß Weihnachten ein Fest sei, das dem Kampf für die Rechte der Unterdrückten, aufgefaßt
nicht erst die Christen eingeführt hätten; daß der tiefere war, hatte der Plan des Festes auch schon seinen Inhalt
Sinn dieses Festes, den Gedanken der Liebe an einem Es galt nur noch auszuwählen zwischen einem Fest der
solchen Tage besonders in Erscheinung treten zu lassen, Neger, der Chinesen, der Großstadtkinder oder einem
auch für diejenigen gilt, die der christlichen Kirche nicht Fest der Tiere. Es siegte der Gedanke, „das Fest der Tiere"
angehören. Ganz sicher spielten bei Einigen auch Erin- zu feinern, all der Geschöpfe, deren Freuden und Sorgen
nerungen mit, die aus der eigenen Kinderzeit her dieses die Kinder jahraus, jahrein im Garten, auf der Wiese, im
Lichterfest in einen besonders warmen Glanz erstrahlen Bach, im Wald teilen, deren Abbildungen sie in Büchern
ließen. und auf Karten bestaunen und deren Leben sie als Ve-
Aber die Kinder, aus aller Herren Länder, wie sie in dieser getarier achten. Als die Kinder-Kommission die Parole
Arbeiter-Schule zusammen gekommen sind, vielfach aus herausgab, war die Empfänglichkeit der Kameraden so-
einem politischen Milieu stammend, in dem die Tradition fort wach, und wie selbstverständlich blieb der Gedanke
des Weihnachtsfestes längst erloschen ist, wurden im Vordergrund des ganzen Festes.
durch dieses alles nicht gerührt. Sie hatten kein Ve r- Es wurden zwei wunderschöne belebte Tage am Schluß
hältnis zum Tannenbaum), und die Erwachsenen fühlten dos Jahres, von dem Augenblick an, wo das große Fest-
deutlich, daß es sinnlos sei, künstlich etwas erhalten zu programm, übersät mit leuchtenden Tierfiguren, am
wollen, wo die Kinder nach anderen Formen und nach schwarzen Brett erschien, bis zu dem Gang im feuchten
einem anderen Inhalt für ihre Freude suchten. Nobel hinauf zum Feuerplatz am zweiten Abend, wo ältere
So wurde es denn eine dankbare Aufgabe, diesem Dran- Genossen den vier Schülergruppen die roten Fahnen
gen nachzugeben und sich darauf zu besinnen, ob wir als übergaben, die an die Verbundenheit mit dem Kampf der
Sozialisten und Erzieher einer freieren Jugend eicht etwa« Arbeiter erinnern.
finden können, was unseren Ideen stärker entspricht als Dreierlei haben diese Tage dem Freund d er Kinder wieder
die Tradition germanischer oder christlicher Feste. zeigen können:
Die unmittelbare Anknüpfung an die Feiern der Arbei- Einmal wie empfindsam das Gefühl dieser jungen Wesen
terschaft, an die Maifeiern oder an revolutionäre Ge- auf all das reagiert, was mit der Welt des Schenkens
denktage, war nicht nur deswegen ausgeschlossen, weil verbunden ist. Das Kind steht nicht nur vor der Aufgabe,
dieses Fest die langen Wintermonate unterbrechen sollte; den Eindruck der Ungleichheit zu überwinden, der auch
die innere Anteilnahme an den Festen der Erwachsenen da noch seine quälende Macht ausübt, wo verständige
ist, wenigstens bei jüngeren Kindern, naturgemäß durch Eltern bereits weitgehend „an Alle" denken und ihre
etwas anderes bedingt als durch das, was die, Herzen der Sondergaben zurücktreten lassen; es spürt deutlich,
Großen dabei erfüllt. Das Fahnentragen, das Mitmar- wenn irgend einer mit seinem Geschenk vorbei greift, ein
schieren ist schön. Aber das ward wahrscheinlich genau anderer mit richtigem Instinkt und
so schön, wenn alle in weißen Hosen und grünen Jacken sicherem Schönheitssinn etwas schickt, das zu diesem
als Mitglieder eines Schützenvereins daher mar- Winterfest paßt wie der Vogelruf zum Frühling. All das
schierten. geht wie Regen und Sonnenschein durch das Gemüt der
Den ersten gesunden Anhaltspunkt für das Abhalten Kinder und haftet oft länger, als man ahnt.
eines Festes boten die Kinder selber: sie wollten das Der erste Tag mit dem Auspacken, Verteilen und Besehen
Beschenken beibehalten. . . . ' der Geschenke verlief dieses Mal trotz der Zufälle, die
Diese natürliche Freude, sich von Menschen, die einem nicht ausblieben (und nie ausbleiben werden), in der
nahe stehen beschenken zu lassen und selber auch zu leichten Atmosphäre von Heiterkeit und Freude, weil die
geben mit den Mitteln, die man hat, reichte denn auch für innere Anteilnahme der Kinder stark von den persönli-
die Vorbereitung des ersten „Ersatz-Festes" aus. Aber chen Erlebnissen abgelenkt war. Das gelang einmal durch
dem Tag selben fehlte etwas, trotz allerlei Veranstal- all jene Programmpunkte, in denen sie s e l b e r
tungen, die den Kindern gefielen, und trotz des Versuchs, e i n e Aufgabe lösten, wie die Eröffnung des Festes
dem Tag ein eigenes Gepräge zu gehen, wie es dem Sinn durch die kurze Rede, die einer von ihnen hielt, wie am
dieser Schule entspricht. Was fehlte? Es Nachmittag das Annageln der Brutkästen auf schwan-
fehlte die lebendige, tiefe Verbindung zu dem, was den kender Leiter, für. all die Stare, die im Juni die Kirschen
Erziehern in ihrer Arbeit mit den Kindern vorschwebt und vertilgen werden, wie am zweiten Tag das Schauturnen,
was diese Kinder g efühlsmäßig selber längst bejahen: die an dem alle, die Fünfjährigen und die Fünfzigjährigen
Zugehörigkeit zur Welt des Sozialismus, die besser
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