Page 85 - Rudolf Giesselmann - Landerziehungsheim Walkemühle
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Terror, über das Gute und Schlechte in der Welt ge-
            sprochen wurde. Durch eigenes Zeitunglesen, durch   Gute Erfolge hat auch der Turnunterricht gehabt. Es
            Tischgespräche oder durch andere zwanglose Unter-   herrscht in den Turnstunden eine straffe - aber keines-
            haltungen erfahren die Kinder die wichtigsten ta-   wegs stramme, militärische  -  Disziplin, die vor dem El-
            ges-politischen Ereignisse. Politische Bedeutung hatte   terntag noch nicht da war.
            auch das Winterfest durch seinen Leitgedanken, sich für
            die Unterdrückten einzusetzen. Vom Winterfest mehr an   Die politische Lage: Von einer politischen Unruhe ist hier
            anderer Stelle.                                     um uns herum so gut wie gar nichts zu spüren. Die Nazis
                                                                treten kaum in Erscheinung. Eine Gefahr von dieser Seite
            Die Kinder sind im Ganzen gesehen in recht guter Ve r-  scheint im Augenblick nicht da zu sein. Eine sehr aus-
            fassung. Im Oktober sind sie alle von unserer Vertrau-  führliche Schulrevision von Seiten unseres zuständigen
            ensärztin untersucht worden; sie sind gesundheitlich alle   Schulrats deutet eine andere Gefahr an: Gefährdung der
            in Ordnung. Der Unterricht macht ihnen viel Freude. Sie   Schule durch den reaktionären Schleicherkurs. Jedoch ist
            sind sehr lernbegierig. Ihr geistiges Leben ist rege. Auch   das nur eine Vermutung, denn eine Revision des Schul-
            diejenigen, die sich früher etwas darauf zu Gute taten,   rats ist an sich nichts Außergewöhnliches. Wir gehören
            kein Buch in die Hand zu nehmen, lesen jetzt Bücher und   zu seinem Bezirk, und es ist seine Aufgabe, sich zu
            Zeitungen. Sie machen sehr gern zweimal in der Woche je   vergewissern, ob unser Unterricht die Mindestanforde-
            zwei Stunden Schularbeiten, eine Einrichtung, die wir  rungen des gewöhnlichen Volksschulunterrichts erfüllt.
            etwa Mitte November geschaffen haben. An schular-
            beitsfreien Tagen stellen sie oft im Tone des Bedauerns   Unser Winterfest war ein schöner Erfolg, von keinem
            fest: ,Oh, heute sind ja keine Schularbeiten!’ Nicht nur   Misston gestört. Minna Specht hat im “Funken” Nr. 291 v.
            das; sie arbeiten auch selbständig an den im Unterricht   8.1.33 einen ausführlichen Bericht darüber geschrieben,
            aufgetauchten Fragen weiter. Die II. Gruppe hat in ihrer   den ihr Euch s icherlich leicht verschaffen könnt. Habt alle
            Freizeit ein sehr nettes Büchlein gedichtet: ,Mathe, der   herzlichen Dank für Eure schönen Pakete. Mit besonders
            moderne Held’, in dem sie ihre mathematischen Entde-  großer Freude wurden die Pakete aufgenommen, deren
            ckungen in äußerst lustiger Form in eine Geschichte ge-  Inhalt einen Zusammenhang mit der Idee des Festes hatte.
            kleidet haben.                                      Aber auch die anderen brachten natürlich Freude, zumal
                                                                ihr alle daran gedacht hattet, dass dieses Winterfest ein
            Selbst auf Peter, unsern Kleinsten, hat das mathemati-  Kollektivfest ist, und auch die Kinder dieses Jahr alle zum
            sche Interesse übergegriffen. Das zeigt folgendes Ge-  ersten Mal mit diesem Gedanken ernst gemacht haben.
            spräch, das sich vor einigen Tagen zwischen ihm und
            Grete Hermann, Spechts philosophischer Mitarbeiterin,   Einzelheiten über das Fest der Tiere erfahrt Ihr ja durch
            abspielte:                                          die Briefe Eurer Kinder. Diese  Briefe  sind  schon  am  2.
                                                                Januar  geschrieben. Wir haben sie bis heute liegen
                                                                lassen, um sie mit diesem Brief zusammen zu schicken. Ihr
            Begegnung in der Haustür.                           seid also bitte nicht böse darüber, dass die Briefe und der
            “Guten Morgen, Peter.”                              Dank Eurer Kinder mit etwas Verspätung zu Euch ge-
            Ein kritischer Blick von der Seite.                 langen.
            “Sie haben gesagt, du könntest mir sagen, welches die
            größte Zahl ist. Welche ist es?”                    Am  3. Januar  begann  wieder  der  regelmäßige Unterricht.
            “Na Peter, das wollen wir uns gut überlegen. Was meinst   Die Arbeit wurde fortgesetzt, als ob wir gar keine Un-
            du zu 100?”                                         terbrechung gehabt hätten. Das ist ein Zeichen dafür,
            “Ach, viel größer! Viel größer noch als eine Million!”   dass die Kinder Interesse und Freude an der Arbeit ha-
            “Dann vielleicht eine Billion?”                     ben.
            Peter nachdenklich:
            “Nein, noch viel größer, noch mehr als 90 mal so groß.”   Wir haben leider schlechtes Wetter hier. So wie wir gutes
            “Dann vielleicht eine Trillion?”                    Schneewetter haben, machen wir ein paar Tage Win-
            Peter stutzt. Er hat offenbar keine Vorstellung, wie groß   tersportferien.
            diese Zahl ist und schöpft Hoffnung:
            “Ja, vielleicht ist sie es.”                        Unsere Arbeit in der nächsten Zeit geht in der Richtung
            “Na, das wollen wir uns noch genau überlegen.”      weiter, in der sie sich jetzt befindet.
            Er steht mit krauser Stirn vor Grete und denkt
            angestrengt nach. Grete betrachtet ihn von oben:
            “Peter, du hast ja ganz schmutzige Ohren. Beide Ohren   Es grüßt Euch herzlich
            sind schmutzig. Such dir mal jemand, der sie dir wäscht.”
            “Das kann ich schon ganz allein.”
            “Ja, dann um so besser, Peter. Lauf hin und wasch sie
            dir.”                                                             Hans Lewinski
            “Ja, gleich, aber erst sag mir, welches die größte Zahl ist.”
                                 ***

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