Page 77 - Rudolf Giesselmann - Landerziehungsheim Walkemühle
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glaubten, dass wir einfach alle drei in die Mutter ihr Kind gleichsam als persönliches Ei-
Walkemühle übersiedeln könnten. Ein im gentum festhielt, wäre ein solcher Versuch
Aufbau begriffenes Unternehmen würde si- unmöglich.
cherlich Verwendung für unsere zu jeder Arbeit
bereiten Kräfte haben. So vereinten wir in un- So gab ich mein Kind in Minna Spechts Obhut.
seren Träumen ein glückliches Familienleben Einige Tage durfte ich in der Mühle bleiben, um
mit der denkbar besten Erziehung unseres ihm das Eingewöhnen zu erleichtern. Auch die
Kindes. Betreuer dieser Kinder lernte ich kennen und ein
wenig vom Leben der kleinen Gemeinschaft.
Die Wirklichkeit sah allerdings anders aus. Als
ich mein Kind in die Walkemühle brachte, la- Und das Kind selber ? War es nur ein Objekt der
gen Jahre schwerer innerer Kämpfe hinter mir Ziele der Erwachsenen ? Hatte es nicht ein
und vor mir; denn mit dem einmaligen Ent- Recht auf Achtung seiner Interessen ? War es
schluss, sich von einem so kleinen Kinde zu damit einverstanden, aus dem warmen Nest
trennen, ist es nicht geschafft. herausgenommen zu werden, um einem pä-
dagogischen Experiment zu dienen ? War
Aber zum Teil waren es eben diese Widerwär- nicht gerade der Kampf ums Recht das Leit-
tigkeiten und Widerstände, sowohl bei mir motiv unserer Arbeit ? Mussten wir also damit
nahestehenden Menschen als auch in mir sel- nicht bei uns selber beginnen? Wie wachen sie
ber, die mich in dem Wunsch bestärkten, mein wieder auf, diese Stürme von Empfindungen
Kind in dieser Umgebung aufwachsen zu lassen. und Gedanken vieler schlaf-loser Nächte!
Es sollte einmal mutiger zu seinen Überzeu-
gungen stehen und mehr Kräfte aufbringen als Hätte ich nun an die augenblicklichen, von
ich, um all das in die Tat umzusetzen, was es als meiner Tochter geäußerten Interessen gedacht,
richtig erkannt hatte. so hätte ich sicherlich von der Trennung ab-
gesehen. So froh sie über die neuen Spielge-
Aber musste ich dazu mich von meinem Kinde fährten, Kinder zwischen vier und neun Jahren
trennen ? Konnte ich, nachdem mir die war, so würde sie leiden, nachdem ich weg-
Notwendigkeit einer solchen Erziehung klar gegangen sein würde. Und obgleich ich ihr
war, sie nicht selbst leisten ? mein Weggehen eindeutig und rechtzeitig er-
klärte, hat sie doch am Tage danach in Be-
Aus zweierlei Gründen schien mir das nicht gleitung eines hilfreichen Altersgenossen das
möglich zu sein: Einmal war ich entschlossen, ganze Haus nach mir abgesucht. Es war nicht
nicht nur ein persönliches Glück für mich und ins Gefühl gedrungen, was das Ohr gehört und
meinen Familienkreis aufzubauen. Es schien mir der Mund bejaht hatten. Mein einziger Trost
widersinnig, dass eine Generation nach der war, dass mein Kind später Verständnis für
anderen sich abfand mit unzureichenden, in meine Beweggründe aufbringen würde, die
jenen Jahren katastrophalen Verhältnissen in ihm heute so viel Kummer brachten - dass seine
unserer Gesellschaft, weil Berufs- und Famili- Erziehung gelingen und es erkennen würde,
ensorgen sie daran hinderten, ihre Kraft den dass nicht nur meine, sondern auch seine ei-
Bemühungen um eine menschenwürdige Ge- genen wahren Interessen mich geleitet hat-
i
sellschaftsordnung zu widmen. Ene intensive ten.” (71)
politische oder sozialpädagogische Arbeit Sämtliche Kinder auf der Walkemühle waren
aber würde mir niemals die Ruhe und Samm- Kinder von ISK-Mitgliedern oder deren Freunden,
lung lassen, die eine vom gleichen Geist ge- so blieb ihre Zahl immer klein und überschritt
tragene Erziehung meines Kindes erforderte. niemals 25. Minna Sprecht war es nicht ge-
Ich hätte das Kind vielen Einflüssen überlassen lungen, die Kinderabteilung durch Waisen-
müssen - den geheimen Miterziehern unserer kinder aus Berlin zu vergrößern.(72) Ihre Be-
Kinder - die meinen Gedanken von einer Er- mühungen wurden 1930 von der Regierung
ziehung zu einem mutigen und verantwor- Kassel - die änderte sich da schon wieder -
tungsfreudigen Menschen nicht entsprachen. blockiert. Man hatte politische Bedenken. (73)
Ein Zweites kam hinzu: Dadurch, dass ich mein
Kind in die Walkemühle gab, trug ich dazu bei,
Minna Specht und Leonhard Nelson die Mög-
lichkeit zu geben, ihre ethischen und päda-
gogischen Ideen zu erproben. Wenn jede
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