Page 46 - Rudolf Giesselmann - Landerziehungsheim Walkemühle
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ris‘ inspirierte selbst die Kinder zu einem Thea-
            terspiel.                                           “Zu Weihnachten war auch der Komponist
                                                                Krenek mal da. Er machte da den vergebli-
            Aber auch die Bewohner der Mühle selber             chen Versuch, uns mit seiner damals super-
            gestalteten manche Abende von sich aus je           modernen Musik vertraut zu machen. Wir
            nach den vorhandenen Talenten: Klavier,             hatten aber Mozart und    Beethoven kennen
            Geige, Gesang, Rezitation oder die einfache         gelernt, da war der Neuntöner Krenek nichts.”
            Erzählung    von    Erlebnissen,  wenn     je-      (Helmut Schmalz)
            mand ,draußen’ gewesen war, oder von ei-
            nem, der eine besonders interessante Ver-
            gangenheit hatte.                                   “An den Kapellenabenden wurde z. B. etwas
                                                                von Erich Mühsam, Bruno Schönlank oder
            Keinen dieser Abende hätte ich missen mögen.        Christian Morgenstern vorgelesen.” (Helmut
            Es waren immer Stunden der Sammlung und             Schmalz)
            der Besinnung, die uns eine Welt erschlossen, zu
            der manche von uns bis dahin noch keinen
            Zugang gehabt haben.”  (50)                         “Wir lasen zum Beispiel Werke wie ,Schuld und
                                                                Sühne’ von Dostojewskij, ,Briefe an Theo’ von
                                                                van   Gogh,    ,Julius  Cäsar’  von   Shakes-
            Eine Helferin:                                      peare, ,Mein Leben’ von Trotzki und ,1793’ von
                                                                Victor Hugo.” (51)
            “Ich und viele von uns haben uns immer auf
            die Kapellenabende richtiggehend gefreut. Da
            hat man sich ein anderes Kleid angezogen,           Diese Kapellenabende hatte Minna Specht bei
            man hat sich die Haare frisch gemacht, das          Lietz im Landerziehungsheim Haubinda kennen
            war ein bisschen feierlich.                         gelernt.  Es war die “stille Abendstunde, in der
                                                                Lietz seine Hausgenossen um sich sammelte,
            Abends in der Kapelle waren nur die Großen,         um sie nach all den Zerstreuungen und den
            die Kinder mussten ja schon um acht ins Bett        vielfachen Anforderungen des Tages hinein-
            und hatten auch ihre eigenen Feiern. Minna          zuführen in die Welt des Schönen, in die Welt
            hat da oft mit Vater Nelson vierhändig Klavier      der ewigen Werte.” (52)
            gespielt, und manchmal sang eine Lehrerin
            sehr schön an diesen Abenden.” (Hedwig Ur-
            bann)                                               Die Kapellenabende standen aber auch noch
                                                                im Zusammenhang mit der Praxis der Frei-
                                                                denkerbewegung. Hier waren alle aus der
                                                                Kirche ausgetreten, “ja militant gegen die
            “Manchmal las man sich auch etwas vor, das          Kirche”(Helmut Schmalz), und suchten nach
            man selber geschrieben hatte. Es war auch           neuen gemeinsamen Ritualen und Feiern, die
            jeder mal an der Reihe, etwas zu erzählen. Die      ihnen Stärkung und Erbauung geben sollten.
            neu auf der Walkemühle waren, erzählten da
            meist, was sie bisher erlebt hatten, woher sie      “In Göttingen, die Freidenkergruppe hatte dort
            kamen, damit man sie kennen lernen konnte.          damals 1200 Mitglieder, wurden am Sonntag
                                                                Matinees organisiert. Da kamen Rezitatoren
            Eine ganze Reihe Schüler und Lehrer spielten        und Musiker vom Theater hin. ...Die waren sehr,
            auch ein Instrument. Und wenn da an einem           sehr gut besucht, obwohl jeder eine Mark Ein-
            Kapellenabend zwei am Flügel saßen, drei mit        tritt zahlen  musste, Solidarität einfach durch
            Geigen daneben standen und wenn dann                Handaufheben gab es damals nicht.” (Helmut
            noch Bratsche oder Cello dazu kam und die           Schmalz)
            die erstklassigen Sachen von Mozart, Beetho-
            ven und Bach spielten, das war schon eine           Diese Kapellenabende gab es von Anfang an
            Wucht.”  (Willi Warnke)                             auf der Walkemühle. Das zeigt auch schon der
                                                                Wochenplan, den Minna Specht 1925 der
                                                                Schulbehörde zugeschickt hatte:





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