Page 74 - Rudolf Giesselmann - Landerziehungsheim Walkemühle
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“Einmal war in Adelshausen Kirmes, und jedes Kinder oft, wenn sie Zeit hatten und kletterten
Kind bekam dafür eine Mark von Julie, die die an den zwei festen Barren herum,
Kleinen versorgte. Wenn Kinder auf die Kirmes
gehen, ist die Verlockung ja groß. So hatten
dann einige Kinder fünfzig
Pfennig ausgegeben und
ein Kind sogar alles. Julie
war sehr empört darüber.
Sie verurteilte es, dass diese
Kinder soviel Schwäche
gezeigt und den Verlo-
ckungen der Kirmes soweit
nachgegeben hatten, al-
les Geld auszugeben.
Julie war in der Beziehung
ein bisschen streng. Ich war
damals erschrocken, wie
kann Kindern nur so etwas
vorwerfen, wenn man ih-
nen schon mal eine Mark in
die Hand drückt ? Und
dann war den Kindern
auch nicht vorher erklärt worden, dass so et- die da standen. Sie kletterten dann auch
was von ihnen erwartet wurde. manchmal auf das Dach von einem der
Schuppen und auf das Dach vom Turbinen-
Die Julie war völlig zerstört, und ich sagte dann haus. Als ich sie das erste Mal da im Sommer
zu Minna: ,Das ist doch unmöglich, ein Kind splitternackt herumklettern sah, dachte
kann das doch noch gar nicht genau ab- ich: ,Um Gottes Willen, wenn jemand dabei
schätzen.’ Minna stimmte mir zu: ,Ich weiß, das herunterfällt!’ Einmal fiel dann auch einer
war falsch, dass Julie die Vorwürfe erhoben herunter, der Kurt Ohlow, und zwar deshalb,
hat.’
weil sie sich auf dem Dach in die Wolle ge-
Natürlich wurden auch in der Walkemühle kriegt hatten. Der fiel da runter und dann - so
Fehler gemacht, wie bei jedem Experiment. war die Dachschräge, eine Tür stand offen -
Die Psychologie war ja damals auch noch schlug er mit dem Kopf auf die Tür drauf, wurde
nicht so weit. Nelson war Rationalist. (Minna dadurch abgefangen und kam dann auf die
Specht dagegen berief sich in der Begründung Füße zu stehen - ein paar Hautabschürfungen,
ihrer Pädagogik auf die Psychologie Freuds sonst nichts.
und Adlers. (68) ) Nelson hatte den Menschen
doch wohl zu einem gewissen Grade über- Den Kindern wurde so etwas bewusst nicht
schätzt, der Mensch kann nicht alles mit einem verboten, um ihr Selbstbewusstsein nicht zu
eisernen Willen machen, es gibt auch Situati- zerstören. Es galt das Prinzip der größtmögli-
onen, wo Meinungen und Triebe dem Men- chen Freiheit.” (Willi Schaper)
schen so überrollen, dass der Verstand völlig
ausschaltet. Nelson hat das nie akzeptiert. Ich
glaube, heute gibt es solche Menschen noch Eine Schülerin, die als Kind auf der Schule war,
viel w eniger als damals, die so zielbewusst sind, erinnert sich noch an zwei Aufgaben, die den
wo wir sie doch gerade heute so gut brauchen Willen der Kinder stärken sollten:
könnten, in dieser verwirrenden Welt.” (Emmi
Gleinig) “Die Elterntage auf der Walkemühle bereiteten
wir Kinder immer selber vor, und zu so enem
i
Elterntag pflückten wir dann mal Erdbeeren.
Ein Helfer: Dabei gab es dann die moralische Verpflich-
tung, keine zu essen. Das wurde als Willens-
“Ein Beispiel für die Freiheit, die die Kinder ge- stärkung angesehen.
nossen: Wir hatten einen Hof, da spielten die
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