Page 39 - Rudolf Giesselmann - Landerziehungsheim Walkemühle
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Ich hatte ein natürlich angeborenes Klassen-        Die Entwicklung des Volkswirtschaftsunterrichts
            bewusstsein, das hatte mir keiner beigebracht,      wurde so dargestellt:
            mein Vater war schon Sozialist. Ich habe immer
            gesagt: Das kann nicht sein. August Bebel, Karl     “Im ersten Jahr studierten die Schüler Berichte,
            Liebknecht und Karl Marx, die hätten das doch       Statistiken und wissenschaftliche Werke. Im
            wohl sonst auch gemerkt haben müssen.  ...          zweiten ergänzten sie diese Arbeit durch Stu-
                                                                dienfahrten zu schlesischen Grundbesitzern und
                                                                dänischen Genossenschaften. Im dritten folgte
                                                                solchen Studienreisen eine Woche praktischer
            Einmal sind wir furchtbar hereingefallen. Wir       Arbeit auf Bauernhöfen. Und jetzt werden die
            hatten Nationalökonomie unter Helmut von            Schüler im Sommer je vier Wochen in einem
            Rauschenplat, Agrarwirtschaft, und wir spra-        großen und in einem kleinen Betrieb arbeiten.
            chen vom abnehmenden Bodenertragszu-
            wachs. Wir wollten das dann sehen, ob das           Ähnlich lernte man auch auf anderen Gebie-
            wirklich so ist, und es war ja das Prinzip der      ten hinzu. In manchen Jahren arbeiteten die
            Schule, dass man alles nachprüft.                   Schüler während der Ferien in einem Industrie-
                                                                oder Gewerbebetrieb oder in einem Bergwerk.
            Rauschenplat hatte uns nämlich klargemacht,         So lernten sie zu  den Lebensbedingungen des
            dass  es ein Optimum an Kunstdüngung gibt;          eigenen Berufes, soweit sie bereits einen gelernt
            und wenn man dann noch z.B. die dreifache           hatten, die eines anderen hinzu.” (41)
            Menge auf den Acker schmeißt, trotzdem die
            Ernte nicht mehr soviel Mehrertrag bringt, dass
            sich der Kunstdünger bezahlt macht.                 Fahrten

            Wir wollten das sehen, sind zu Onkel Schwer,        Auf den Unterricht bezogene Fahrten wurden
            dem Gärtner, gegangen und haben ge-                 häufig gemacht. Es gab z.B. Fahrten durch das
            sagt: ,Gib uns mal eine Ecke.’  Das Stück Land      Ruhrgebiet, um die Region der deutschen
            war aber leicht hängig, das sollte unser Ver-       Schwerindustrie kennen  zu  lernen. (42) Eine
            derben werden.                                      Helferin erinnert sich daran: “Da brachten sie
                                                                Getreideähren mit, die waren ganz schwarz
            Wir haben das prima umgegraben, haben uns           von dem vielen Rauch und Dunst und Dreck,
            Stallmist aus dem  nächsten Dorf besorgt und        den es damals dort gegeben hat.” (Hedwig
            haben dann die Beete angelegt. Dann haben           Urbann)
            wir den Spinat gesät und unterschiedliche
            Dosen von Kunstdünger daraufgeschmissen.            Die Erwachsenenabteilung der Walkemühle
                                                                bekam für ihre Fahrten “zu wissenschaftlichen
            Doch     anschließend    kam    ein   wolken-       und belehrenden Zwecken” Fahrpreisermäßi-
            bruch-artiger Regen; der hat unsere Beete alle      gung zugestanden. Einem Antrag für diese
            verwischt, so dass nichts mehr zu erkennen war.     Ermäßigung ist zu entnehmen,  dass 1925 zwei
            Ein sehr starker Regen, ein ungewöhnlich            Fahrten mit der Eisenbahn unternommen
            starker Regen.                                      worden sind: “Eine ... Fahrt nach Bayern
                                                                (Bamberg, Würzburg) ... sowie eine Fahrt nach
            Aber dann ging der Spinat auf. Also so etwas        Cassel zur Besichtigung der Henschel’schen
            von Spinat hat es noch nie gegeben. Dann            Betriebe.” (43)
            haben wir den ganzen Sommer über Spinat
            gegessen. Wir haben nachher ,der grüne Terror’      Auf der Fahrt nach Bamberg und Würzburg in
            gesagt. Wir mochten ihn nicht mehr, wir haben       das Maintal sollte die Mentalität der katholi-
            also den Spinat in jeder Form gekriegt. Hedwig      schen Bevölkerung dort kennen  gelernt wer-
            Urbann, unsere sehr tüchtige Köchin und             den. (44)
            Wirtschafterin, hat sich sehr große Mühe ge-
            geben, aber es half dann auch nichts mehr.
            Und weggeschmissen werden durfte der Spinat         Ein Schüler erzählt von dieser Fahrt:
            in der Walkemühle auf gar keinen Fall, der
            musste    aufgegessen     werden.”    (Helmut       “Neben den Reisen in die Umgebung alle
            Schmalz)                                            vierzehn Tage, gab es im Jahr ein oder zweimal
                                                                eine ,Große Fahrt’, so nannte man das damals.


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