Page 34 - Rudolf Giesselmann - Landerziehungsheim Walkemühle
P. 34

tem aufgestellt. Er hat wieder und wieder sein      gemeinsamen Voraussetzungen zurückzube-
            Nicht-Wissen zugestanden. Er ist jeder Be-          ziehen, das sei Philosophieren.
            hauptung entgegengetreten mit der Auffor-
            derung, den Grund ihrer Wahrheit zu suchen. Er      Nelson stellt dann die Frage, welche Folge-
            hat, wie es in der ,Apologie’ heißt, seine Mit-     rungen daraus für den philosophischen Unter-
            bürger ,ausgefragt, geprüft und ins Gebet           richt zu ziehen sind.
            genommen’, nicht um ihnen lehrend eine neue
            Wahrheit zu vermitteln, sondern nur, um ihnen       “Jene allgemeinen Wahrheiten lassen sich,
            den Weg zu zeigen, auf dem sie sich finden          sofern sie in Worten ausgesprochen werden, zu
            lässt.”                                             Gehör bringen. Aber sie werden darum kei-
                                                                neswegs eingesehen. Einsehen kann nur der-
            Fasziniert von den rasanten Fortschritten der       jenige, der von ihrer Anwendung ausgeht in
            Mathematik und den Naturwissenschaften,             Urteilen, die er selbst fällt, und der dann, indem
            wie viele andere zu seiner Zeit, will Nelson        er selbst den Rückgang zu den Voraussetzun-
            durch die sokratische Lehrmethode nun auch          gen dieser Erfahrungsurteile vollzieht, in ihnen
            die Philosophie, und hierin besonders die Ethik     seine  eigenen   Voraussetzungen    wiederer-
            und die Rechtslehre, in den Rang einer objek-       kennt.”  Deshalb  kann der philosophische Un-
            tiven Wissenschaft erheben.                         terricht “nur Unterricht im Selbstdenken sein, -
                                                                genauer: in der selbständigen Handhabung
            Worin besteht  nun genauer die sokratische          der Kunst des Abstrahierens.”
            Methode?
                                                                Bei Anwendung der sokratischen Methode hat
            Nelson geht davon aus, dass    es klare Urteile     der Pädagoge zuerst einmal die Aufgabe, den
            gibt, die den Einzelfall betreffen, Erfahrungs-     Schüler zur Freiheit zu zwingen, wie es auch
            urteile, wie sie im täglichen Leben gefällt         Sokrates getan hat, indem er “durch seine
            werden. In diesen verschiedenen konkreten           Fragen die Schüler zum Eingeständnis ihrer
            Urteilen sei nun die allgemeine Erkenntnis          Unwissenheit bringt und damit dem Dogma-
            enthalten, welche durch die Anwendung der           tismus bei ihnen die Wurzel abschneidet.”
            sokratischen Methode ans Licht zu bringen sei.
            Unbedingt sei deshalb beim Philosophieren           Nachdem so bei den Schülern Hindernisse  -
            immer vom konkreten Fall auszugehen. Er führt       immer wieder neues Wissen zu erwerben durch
            dazu ein Beispiel an:                               ihre Einsicht in ihr Nicht-Wissen  -  abgebaut
                                                                worden sind, Hindernisse, die darin bestanden,
            "Wenn wir über die Allgemeingültigkeit der          dass immer wieder ungeprüft Halbwahrheiten
            Rechtsidee diskutieren wollten, so werde diese      vertreten werden konnten, fordert Sokrates
            Diskussion ... durch ihren Verlauf ... dem Skep-    seine Schüler auf, sich zuallererst “über das
            tiker Recht geben, der die Allgemeingültigkeit      Treiben der Weber, der Hufschmiede, der
            ethischer Wahrheiten bestreitet.  Wenn dieser       Wagenführer zu verständigen”.  Erst nachdem
            Skeptiker aber heute Abend   in seiner Zeitung      “den Beobachtungen des täglichen Lebens”
            liest,  dass  die Landwirte noch immer mit der      ihre allgemeinen Voraussetzungen abgefragt
            Ablieferung des Brotgetreides zögern, um die        worden sind, soll dann “von dem sicheren Ur-
            Konjunktur des Getreidemarktes auszunutzen,         teil zu dem weniger gesicherten” vorgedrun-
            und  dass  daher das Brot wieder gestreckt          gen werden.
            werden  muss, so wird er nicht leicht geneigt
            sein, mit seiner Entrüstung darum zurückzu-         Bei dem Versuch, seine eigene Methode auch
            halten, weil ja für den Produzenten und für den     anzuwenden, sei Sokrates dann aber ge-
            Konsumenten kein gemeinsames Recht gilt. Er         scheitert. Entgegen den suggestiven Fragen
            verurteilt wie jeder andere den Wucher und          des Sokrates gehe es im Unterricht, der sich auf
            beweist damit, dass  er faktisch die metaphy-       seine Methode stütze, zuallererst um die Aus-
            sische Voraussetzung der Gleichheit des An-         schaltung des Dogmatismus, was “den Ver-
            spruchs auf Interessenbefriedigung, unabhän-        zicht auf jedes belehrende Urteil überhaupt”
            gig von der Gunst oder   Ungunst der persönli-      bedeute.
            chen Lage, anerkennt.”
                                                                Nelson fragt dann weiter: “Wie soll ein Unter-
            Diese konkreten Erfahrungen seien nun zu zer-       richt und also Belehrung überhaupt möglich
            gliedern und mit Hilfe des Verstandes auf ihre      sein, wenn jegliches belehrende Urteil aus dem
                                                                Unterricht verbannt ist ?

                                                            34
   29   30   31   32   33   34   35   36   37   38   39