Page 35 - Rudolf Giesselmann - Landerziehungsheim Walkemühle
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Philosophie herantritt und keine einzige Frage
            Denn die Ausflucht wollen wir doch nicht            an sie hat, was soll man von dessen  Kraft er-
            gelten lassen, dass die Forderung unmöglich so      warten, mit Ausdauer ihren verwickelten und
            extrem gemeint sei, dass nicht hier und da zur      tiefliegenden Fragen nachzuforschen ?
            Nachhilfe für den Schüler ein verstohlener Wink
            des Lehrers statthaft sei ...                       Was wird also der Lehrer tun, wenn keine
                                                                Fragen gestellt werden ?   Er wird warten, bis
            Ist das Ziel der Erziehung vernünftige Selbstbe-    die Fragen sich einstellen. Er wird höchstens die
            stimmung, d.h. ein Zustand, in dem der Mensch       Bitte aussprechen, in Zukunft über die Fragen
            sich nicht durch äußere Einwirkung bestimmen        vorher nachzudenken, um der Zeitersparnis
            lässt, vielmehr aus eigener Einsicht urteilt und    willen. Aber er kann nicht, um der Zeitersparnis
            handelt, - so entsteht die Frage, wie es möglich    willen, den Schülern die Mühe des Fragens
            ist, durch äußere Einwirkung einen Menschen zu      abnehmen. Er würde vielleicht ihre augen-
            bestimmen, sich nicht durch äußere Einwirkung       blickliche Ungeduld besänftigen, aber um den
            bestimmen zu lassen.                                Preis, die erst zu erweckende philosophische
                                                                Ungeduld in ihrem Keim zu ersticken. ...
            Diese Paradoxie müssen wir lösen,  oder wir
            müssen die Aufgabe der Erziehung fallen las-        Der Leiter wird nun  gewiss  nicht jede Frage
            sen.”                                               einer langwierigen Untersuchung unterwerfen.
                                                                Er wird bestrebt sein, seine eigene Einschätzung
            Als Antwort auf diese Frage bietet Nelson an,       der Fragen für den Gang der Aussprache
            dass Lehrer den Schülern im Unterricht allein die   nutzbar zu machen. Was aber nur heißt: Er wird
            Methode zeigen. Er beschreibt den Lehrer für        aufschlussreiche  Fragen oder solche, die bei
            einen solchen Unterricht folgendermaßen:            ihrer Behandlung typische Fehler ans Licht zie-
                                                                hen, in den Vordergrund treten lassen, indem
            “Der Lehrer, der sokratisch unterrichtet, ant-      er etwa an eine solche Frage die weitere an-
            wortet nicht.  Aber er fragt auch nicht. Ge-        knüpft: ,Wer hat verstanden, was eben gesagt
            nauer: Er stellt keine philosophischen Fragen       worden ist?’ Hierin liegt weder ein Hinweis auf
            und gibt, wenn man solche an ihn richtet,           die Zweckmäßigkeit noch auf die Unzweck-
            unter keinen Umständen die verlangte Antwort.       mäßigkeit jener Frage, sondern lediglich die
            Er schweigt also ?   Das werden wir sehen.          Aufforderung, sich mit ihr zu beschäftigen,
            Jedenfalls hört man in einer solchen Ausspra-       durch Kreuz-  und Querfragen ihren Sinn her-
            che oft den verzweifelten Ruf an den Leh-           auszuholen.
            rer: ,Ich weiß gar nicht, was Sie wollen!’  -
            worauf die Antwort erfolgt: ,Ich ?  Ich will gar    Aber wie verhält es sich nun mit den Antwor-
            nichts’, was gewiss nicht die ersehnte Auskunft     ten ?   Wie werden sie erledigt ?
            enthält.  Was tut der Lehrer also ?  Er entfesselt
            das Frage-   und Antwortspiel zwischen den          Zunächst gilt für sie das Gleiche wie für die
            Schülern, etwa durch die einleitende Äuße-          Fragen. Unverständliche Antworten werden
            rung: ,Hat jemand eine Frage ?’                     übergangen, damit der Schüler den Vorbe-
                                                                dingungen einer wissenschaftlichen Ausspra-
            Nun weiß aber doch jeder mit KANT, dass    es       che sich anbequemen lernt. Im übrigen wer-
            schon ein großer und nötiger Beweis der             den die Antworten ebenfalls durch Gegen-
            Klugheit oder Einsicht ist, zu wissen, was  man     fragen untersucht, wie etwa die:
            vernünftigerweise fragen solle.                     ,Was hat die Antwort mit unserer Frage zu
                                                                tun?’
            Was geschieht bei ungereimten Fragen oder           oder: ,Auf welches Wort kommt es Ihnen an?’
            wenn   gar  keine  Frage   erfolgt ?  Was ge-       oder: ,Wer hat zugehört?’
            schieht, wenn niemand antwortet ?                   ,Wissen Sie selbst noch, was Sie eben gesagt
                                                                haben?’
            Sie sehen, von Anfang an tritt die Schwierigkeit    ,Von welcher Frage sprechen wir eigentlich?’
            ans Licht, die Schüler durch sich selbst zur Tä-    Je einfacher die Fragen werden, desto mehr
            tigkeit zu bringen, und damit die Versuchung        entschwindet nun freilich bei dem Gefragten
            für den Lehrer, den Ariadnefaden auszuwerfen.       die Geistesgegenwart. Erbarmt sich dann ein
                                                                mitfühlendes Herz und eilt dem Bedrängten mit
            Aber von Anfang an, ja gerade zu Anfang,            der Erklärung zu Hilfe: ,Der Kommilitone hat
            muss  der Lehrer standhaft sein. Wer an die         wohl sagen wollen: . . . ‘, so wird solche Hilfe

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