Page 26 - Rudolf Giesselmann - Landerziehungsheim Walkemühle
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niemals verschlossen, und man konnte immer
            hineingehen. Nur wenn jemand seine Ruhe
            haben wollte, dann hängte er ein Schild             Ein Lehrer:
            draußen an die Tür: ,Bitte nicht stören’.
                                                                “Das war natürlich hart, auch für mich war es
            Trotz eigenem Zimmer war es jedoch eine             sehr hart, zunächst den Briefkontakt mit mei-
            große Anforderung an den    einzelnen, sich in      nen Eltern aufzugeben; das hörte dann bei mir
            die Gemeinschaft hineinzufinden, in der fast        nachher auf, das war für die Schüler, die ma-
            alle Bereiche des täglichen Lebens gemeinsam        ximal drei Jahre da blieben, durchführbar, aber
            geregelt wurden.                                    für einen der als Lehrer da ständig arbeitet - ich
                                                                war ja insgesamt sechs Jahre in der Walke-
            Ein Hinweis, wie streng die Schule für die er-      mühle, davon habe ich das zwei Jahre lang
            wachsenen Schüler war: Sie konnten nur über         auch so gemacht. Dann habe ich den Kontakt
            die Leiterin Minna Specht mit Leuten außerhalb      nach draußen aber  wieder aufgenommen.
            korrespondieren, sie sollten ständig in Klausur     Das war natürlich hart. Das war für mich vor
            arbeiten, um ganz intensiv für diese Sache da       allem dadurch zu ertragen, da Minna Specht
            zu sein.                                            ein ganz außergewöhnlicher Mensch war, ein
                                                                wirklich genialer Erzieher und menschlich un-
            Ich war während der tollen Inflationszeit           geheuer   lebendig.  Mit  einem   Leiter  der
            Schülerin auf der Walkemühle, so habe ich das       Walkemühle, der auch nur eine Neigung zu
            gar nicht mitmachen brauchen. Mein Mann             einer  bürokratischen   Persönlichkeitsstruktur
            war in Kassel Beamter und kriegte zu der Zeit       gehabt hätte, wäre es nicht zu machen
            jeden Tag das Geld. Da musste    dann gleich          gewesen.
            dafür eingekauft werden.

            Mein Mann hatte eine Bekannte von uns zu
            Hause, die für seinen Haushalt sorgte, er war ja
            den ganzen Tag im Büro. Und als ich zum
            zweiten Mal für einige Zeit in der Walkemühle
            war, da war da noch ein Junge bei mir zu
            Hause, den ich mir aus dem Kinderheim geholt
            hatte. Auch zu der Zeit habe ich keine Ver-
            bindung nach Kassel gehalten.  Ich durfte nicht
            schreiben, und man durfte mir nicht schreiben,
            es sei denn man schrieb an Minna Specht, die
            hätte das dann gelesen und entschieden, was
            sie mir davon weitergegeben hätte. Denn
            man sagte sich so: ,Wenn dieses Menschenkind
            sich auf die Arbeit konzentrieren will, dann darf
            es nicht beunruhigt werden.’ Es hätte zum
            Beispiel sein können,  dass  mein Mann ge-
            schrieben hätte: ,So geht es nicht, wir müssen
            jemand anderen in den Haushalt haben, sorg
            mal dafür.’

            Manche fanden das natürlich grausam, ob-
            wohl die Schüler sich dieses Gesetz selbst ge-
            geben hatten.    Sie hatten die Erfahrung ge-
            macht, dass von außen ein furchtbarer Kungel
            in die Walkemühle kommen kann. Man wusste
            also, warum und weswegen man diese Ver-
            pflichtung auf sich nahm.                                        Minna Specht 1930

            Man hat aber in keiner Weise dort dann als
            Einsiedler gelebt, man musste ja doch mit der
            Welt in  Verbindung bleiben, die man verän-
            dern wollte.” (Grete Mayr-Eichenberg )

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