Page 31 - Rudolf Giesselmann - Landerziehungsheim Walkemühle
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Der theoretische Unterricht begann nach etwa terbewegung.” (38)
einem halben Jahr.
Ein ehemaliger Schüler schreibt dazu: Ein Lehrer erinnert sich:
“Nachdem diese Periode (der praktischen “Mit einer Schülergruppe, mit der ich ein halbes
Arbeit) abgeschlossen war, wurde unsere ro- Jahr praktisch zusammen-gearbeitet hatte,
mantische jugendliche Begeisterung für ein habe ich dann das Winterhalbjahr mit sokra-
Leben im Dienst der sozialistischen Revolution tischem Mathematikunterricht angefangen.
abgelöst durch die praktische Überzeugung
von der Notwendigkeit geduldiger Arbeit ohne Soviel ich mich erinnere, ging das immer im
jeden Glorienschein. (...) In dieser Geisteshal- Drei-Wochen-Zyklus: Eine Gruppe hatte drei
tung gingen wir an unsere theoretische Arbeit Wochen Mathematikunterricht bei mir, dann
heran. Auch da erwartete uns eine Überra- hatte eine andere Gruppe gleichzeitig bei
schung: Ehe wir uns auseinander setzten mit Rauschenplat Volkswirtschaft; und wenn noch
dem historischen Materialismus, mit der eine dritte Gruppe da war, hatte die histori-
Mehrwerttheorie, mit den Begriffen der Freiheit schen oder philosophischen Unterricht bei
und der Gerechtigkeit und dem Sinn der Minna Specht.
Menschenwürde, mussten wir uns im logischen
Denken üben. Aus diesem Grunde widmeten Nachdem die Gruppen drei Wochen in einem
wir uns sechs Monate lang der Mathematik, Bereich unterrichtet worden waren, wechsel-
aber nicht wie in der Schule, in der wir daran ten die Bereiche. Diejenigen, die z.B. bei mir
gewöhnt waren, die Beweise von Lehrsätzen Mathematik gehabt hatten, gingen die
auswendig zu lernen. Hier wurden wir ange- nächsten drei Wochen zu Rauschenplat und
leitet, die Lösungen selber zu finden. Der Vor- wieder drei Wochen darauf zu Minna Specht in
mittag war sokratischen Diskussionen ge- den Unterricht. Kam die Gruppe dann wieder
widmet; nach und nach erwarben wir Kennt- zu mir, ging es in der Mathematik dort am
nisse und empfanden dabei die Freude und die gleichen Thema weiter, wo wir gerade auf-
innere Befriedigung, der Kraft unseres Vers- gehört hatten.
tandes und des Vermögens unserer Vernunft
bewusst zu werden.
Am Nachmittag wurden
Protokolle über die Dis-
kussionen geschrieben,
die dahin führen sollten,
die Ausgangspunkte für
die Arbeit des nächsten
Tages zu finden. Diese
geistige Konzentration
auf eine strenge und
unerbittliche Methode
hat ein gesundes
Selbstvertrauen in uns
geweckt: die Probleme
schreckten uns nicht
mehr, wir hatten gelernt,
mit einem Werkzeug
umzugehen, mit dem
wir Argumente und The-
orien sezieren konnten.
Nach der gleichen Me-
thode studierten wir
später Philosophie,
Nationalökonomie und
die Geschichte der
Arbeiterbewegung.” (38)
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