Page 33 - Rudolf Giesselmann - Landerziehungsheim Walkemühle
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Wir haben angefangen mit dem Winkelsum- schlagen: ,Wir können ja mal an diesem Punkt,
mensatz im Dreieck. Ich weiß nicht mehr, wer an dem wir stehen geblieben sind, für ein paar
den Anlass dazu gegeben hat, aber wir haben Stunden weitermachen und ihnen das vor-
jedenfalls damit angefangen, nur die zwei mit exerzieren.’ Das haben wir auch drei oder vier
Abitur haben zunächst nicht daran teilge- Stunden gemacht. Die Lehrer haben zugehört.
nommen, weil die die Dinge kannten, und das Und ich weiß noch genau, dass Specht dann
so zwecklos gewesen wäre. Die hätten dann irgendwann gesagt hat: ,Ja also, jetzt sehe ich,
gesagt: ,so und so und so’, das war ja nicht der dass das so zustande gekommen ist.’ ”
Sinn der Sache. Als wir mit dem Winkelsum- (Willi Schaper )
mensatz einigermaßen klar waren, haben die
am Unterricht dann auch teilgenommen.
Wir sind, nachdem wir das Dreieck so ziemlich
durch hatten - leider habe ich meine Protokolle
nicht mehr, ich musste die während der Nazi- Die sokratische Methode
zeit verstecken, und weiß jetzt nicht, wo die
sind - dann sind wir im Laufe eines halben Für jeden Unterricht, der auf der Walkemühle
Jahres bis zur Zahlentheorie gekommen und gehalten wurde, war die schon einige Male
haben am Ende dieses Halbjahres vor der angeklungene sokratische Methode von gro-
ganzen Schule darüber berichtet. Ich weiß ßer Bedeutung. Leonard Nelson hat 1922 diese
noch, ich habe über das Thema ,Dichte und Methode in einer Rede sehr lebendig darge-
Stetigkeit der Zahlenreihe’ gesprochen; und stellt, die ich im folgenden in Auszügen wie-
zwar waren alle diese Dinge wirklich aus uns dergeben werde. (39)
selbst heraus erarbeitet.
“Die sokratische Methode ist ... nicht die Kunst,
Wir hatten im Halbjahr z.B. für die Begründung Philosophie, sondern Philosophieren zu lehren,
des Pythagoras, ich glaube, vier oder fünf nicht die Kunst, über Philosophen zu unter-
verschiedene Möglichkeiten gefunden. Je- richten, sondern Schüler zu Philosophen zu
mand hatte denselben Beweis, den ein Inder machen. Wollte ich daher von der sokrati-
gemacht hat, und ich bin auf die Lösung von schen Methode eine rechte Vorstellung geben,
Fries gekommen; das war glaube ich über das so müsste ich meine Rede hier abbrechen und,
Parallelenpostulat, das weiß ich jetzt nicht statt ihnen etwas vorzutragen, mit ihnen eine
mehr so genau. Wir haben diese vier oder fünf philosophische Frage nach sokratischer Me-
verschiedenen Beweise gefunden, ohne von thode zu behandeln.”
den Dingen auch überhaupt nur etwas zu
wissen und ohne Literatur zur Hand zu nehmen, Dafür sei aber die für diesen Vortrag vorgese-
rein aus unserer Arbeit heraus. hene Zeit zu kurz, meint Nelson, und begrenzt
daher von vorneherein seine Aufgabe darauf,
Am Ende dieses Halbjahres haben wir dann vor wenigstens die Aufmerksamkeit auf diese
der ganzen Schule Bericht erstattet. Das wurde Lehrart zu richten.
in allen Fächern gemacht, gleich ob es sich um
Physik, um Mathematik, um Geschichte oder Wie in allen ernsthaften Wissenschaften, be-
Volkswirtschaft oder um Philosophie handelte. sonders in der Mathematik und in den Natur-
wissenschaften, eine Methode als allgemein-
Und in diesem Fall war es so, dass Minna Specht gültig anerkannt wird, so sei auch in der Phi-
angezweifelt hat, ob wir soweit denn wirklich losophie die Begründung ihrer Ergebnisse
alleine vorgestoßen wären oder ob nicht doch “nach eindeutigen, die Willkür ausschließen-
durch die Hintertür etwas nachgeholfen wor- den Regeln vorzunehmen”. Nelson will mit der
den wäre, Sie verstehen. ... sokratischen Methode in der Philosophie also
keinen Kanon von Aussagen aufstellen, son-
Dann sind wir furchtbar entrüstet gewesen dern eine Methode liefern, die es jedermann
oder ziemlich betreten und haben uns in einer ermöglichen soll, sofern sie mit der nötigen
Mittagspause, das weiß ich noch genau, zu- Aufmerksamkeit betrieben wird, diese wahren
sammengesetzt: ,Also, das können wir auf uns Aussagen selbst zu finden. Hierbei bezieht er
nicht sitzen lassen, das können wir auf Heck- sich auf den griechischen Philosophen:
mann nicht sitzen lassen. Was sollen wir ma- “SOKRATES hat, wie jedermann weiß, kein Sys-
chen?’ Und irgendjemand hat dann vorge-
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