Page 68 - Rudolf Giesselmann - Landerziehungsheim Walkemühle
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Zwischenfrage Der Tagesablauf auf der
Walkemühle
Ist die Walkemühle überhaupt noch von so
großem Interesse, und lohnt sich eine so aus- “Nach der Gründung des ISK 1926 war unter
führliche Darstellung? Der Angriff auf das Mitgliedern das ,Du’ verbindlich. Nelson war
Wilhelminische Erziehungssystem, Menschen, da eingeschlossen.” (Willi Schaper)
die alle ihre Kräfte auf den Kampf um eine
gerechte Gesellschaft konzentrieren, was Der Morgen
bleibt davon übrig, wenn ich von die-
sen ,kleinen Problemen des Alltags' lese? Denn Die Helferin für das Haus und die Küche kann
ich habe noch nie erlebt, sich noch am besten zusammen-hängend an
dass ,große’, ,besondere’ Men- den Tagesablauf erinnern:
schen, ,Menschen mit Geschichte’ in ihrem
Alltag dargestellt worden sind, der nicht nur “Im Sommer sind wir um sechs aufgestanden.
Garnierung, Apercu war. Damit unterschieden Dann wurde sich gewaschen, unter die eiskalte
sich diese Menschen von den vielen anderen, Dusche, ein bisschen Seife, fertig. Sommer wie
die überhaupt nicht dargestellt wurden, die Winter haben wir das gemacht. Durch diese
nur Alltag besitzen, über den dann nur noch sie Abhärtung sind wir sehr widerstandsfähig ge-
selbst reden, nicht aber die Öffentlichkeit. gen alle Krankheiten geworden, das machte
man allgemein damals ja so.
Schüler der Walkemühle, von denen später,
nach 1933, die meisten aktiv im Widerstand Dann war Dauerlauf, anschließend hat man
gegen den Faschismus gearbeitet haben, - sein Zimmer in Ordnung gebracht, und von
kann man sich das überhaupt noch vorstellen, sieben bis acht war gewöhnlich Gemein-
wenn man liest, dass sie schon wegen sechs schaftsarbeit. Was hat man da gemacht ? Im
Haarbürsten Schwierigkeiten bekommen Sommer zum Beispiel Erbsen gepuhlt, zum
konnten? Einmachen, im Garten gearbeitet, überall da
geholfen, wo die Helfer das allein nicht ma-
Aber man kann den Gedankengang auch chen konnten, Marmelade gekocht, Gurken
umkehren: Menschen, die wegen sechs und Sauerkraut eingemacht, dann wurde
Haarbürsten Schwierigkeiten bekommen auch mal ein Haus gebaut, dann musste im-
können, sind immer noch in der Lage, viel im mer Holz für den Ofen kleingehackt und das
politischen Kampf zu leisten, beispielsweise im Feuer angemacht werden. Um acht gab es
Kampf gegen den Faschismus. Mit einem Un- dann gewöhnlich Frühstück.”
terschied: es sind jetzt keine sterilen Helden (Hedwig Urbann)
mehr, keine Übermenschen, die in teuren
Kunstdruckbänden zeitlos geworden, vom
neuen Staat geehrt werden. Bei solcherart
menschlich nachvollziehbarer Zivilcourage ist
deutsche Geschichte nicht mehr nur das, was
vorbei ist. Vielleicht ist es nicht mehr so schwer,
an die Geschichte anzuknüpfen, wenn das
Menschliche in ihr nicht beseitigt wird, rasiert,
geschniegelt und gebügelt, die Menschen als
Helden auf Sockel gehievt, unerreichbar, was
fast schon dem gleichkommt, sie als tote
Helden zu feiern.
Und selbst wenn der Unterschied zwischen uns
und diesen Helden noch unendlich groß er-
scheinen sollte, so entrückt sind sie uns dann
nicht mehr.
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